Dem Vergessen entrissen

Es gibt diese eine ganz besondere Gruppe von Liedern, nämlich jene, die ich völlig im Kopf geschrieben habe. Und dabei meine ich nicht nur den Text, denn das wäre ja noch einfach. Ich meine tatsächlich den gesamten Vorgang, also auch die Komposition, ganz ohne Zuhilfenahme eines Instrumentes. In der Regel war ich in einem solchen Fall nicht Zuhause, sondern zum Beispiel auf einer langen Autofahrt. Ich nutzte diese Zeit damals gerne zum „gedanklichen Spazierengehen“. Meistens passierten im Anschluß an diese „Kopfkompositionen“ zwei Dinge: Entweder konnte ich a) nach meiner Rückkehr meine Gitarre schnappen und das Lied einfach so herunterspielen, dann war es auch meistens ganz gut. Oder es wollte b) so überhaupt nicht klappen. Dann war ich wohl bei meinem gedanklichen Spaziergang ordentlich vom Weg abgekommen und das Lied war kurz gesagt scheiße. Der Song landete dann irgendwo  in der hintersten Ecke meines Kreativspeichers. Und blieb da. Bis gestern.

Es war irgendwann gegen Ende der 90er Jahre. Ich hatte einen Job, den ich nicht mehr liebte, ich lebte mit einer Frau zusammen,  die mich nicht mehr liebte, mein Leben war also ganz wunderbar in Ordnung. Wieder einmal befand ich mich zwischen Baum und Borke. Planlos, ziellos, depressiv. Beruflich war ich in dieser Zeit ein echter Nachtschwärmer, ich war nämlich als sogenannter Sicherungsposten für die Düsseldorfer Rheinbahn tätig. Die Aufgabe eines Sicherungspostens ist die Sicherung einer Gleisbaustelle, dazu wurde man mit einer rot weißen Signalfahne und einer ziemlich altmodischen Dreiklang-Fanfare ausgestattet, um im Gefahrenfall die Arbeiter im Gleisbett rechtzeitig zu warnen. Letztere sah nicht nur entfernt aus wie eine Schalmei, sondern man musste auch wie in eine Schalmei selbst hineinblasen. Der Job war sehr wichtig, denn man hatte die Verantwortung für die Sicherheit des kompletten Bautrupps. Blöd nur, dass die Baustellen der Rheinbahn Straßenbahn-Gleisbaustellen waren und Straßenbahnen nachts in den Depots verbleiben. Die Gefahren hielten sich also weitestgehend in Grenzen, man hatte als Sicherungsposten, kurz SiPo, daher eigentlich nur eine einzige wirkliche Aufgabe: Dekorativ in der Gegend herumstehen und während der üblichen zehn Stunden Nachtschicht wenigstens halbwegs bei Bewusstsein zu bleiben.  Es hätte ja immerhin irgendwann gefährlich werden KÖNNEN. Und Vorschrift ist Vorschrift, also kämpfte ich brav gegen den Schlaf und ging viel Spazieren. Gedanklich natürlich.

In einer jener Nächte jedoch war ich irgendwie so gar nicht müde, und das hatte einen Grund. Mitten hinein in meine in den letzten Zügen liegende Beziehung erhielt ich an diesem Tag eine Nachricht von einer ehemaligen Freundin. Eine „Alte Flamme“, wie man so schön sagt. Allerdings eine von diesen Beziehungskisten, auf denen schon lange der Deckel drauf war und die ich, wie sollte es auch anders sein, mal wieder selbst verbockt hatte. Der Gedanke an sie wollte mich in dieser Nacht irgendwie nicht mehr loslassen. Wie immer hatte sich die Vergangenheit mittlerweile in ein hübsches rosa Tüllkleid gehüllt  und es blieben in der Rückblende eigentlich nur noch schöne Momente übrig. Ich hatte also schon wieder diese gottverdammten Schmetterlinge im Bauch, die es immer irgendwie schafften, sich bis zu meinem Gehirn vorzuarbeiten und meinen Verstand auszuschalten. Diesmal jedoch war, ganz hinten in meinem Denkapparat, eine kleine Stimme verblieben. Mahnend hob diese den Zeigefinger, machte sich massiv bemerkbar und erinnerte mich im letzten Moment daran, dass es ja wohl einen Grund für diese zugenagelte Beziehungskiste geben muss.

Kurz und gut, ich begann, diese Gedanken wieder einmal in einen Song zu packen. Es ließ sich auch alles recht gut an, zwei Strophen und ein Refrain waren im Kopf ziemlich schnell zusammengezimmert. Ich freute mich schon auf das Ende der Nachtschicht, ich wollte ganz schnell heim zu meiner Gitarre und den tollen neuen Song spielen und aufschreiben. Aber die Ernüchterung folgte auf dem Fuß. Strophe und Refrain funktionierten zwar jede für sich ganz ausgezeichnet, wollten aber nicht so recht zusammenkommen. Irgendetwas hakte hier, ich konnte nur nicht genau ausmachen, was.Also zerknüllte ich das Blatt Papier, auf den ich den Text geschrieben hatte und verbuchte den Song unter Abteilung b), also eher scheiße. Irgendwie hatte ich mich aber dann doch entschlossen, das Papier wieder glattzustreichen und in meine Textmappe zu heften. Und da blieb es dann, fast zwanzig Jahre lang. Niemand außer mir hat also den Song je gehört.

Am vergangenen Wochenende saß ich wie jedes Wochenende wieder mal in meinem kleinen Hobbykeller. Und wie der Teufel es wollte, erinnerte ich mich ausgerechnet an diesen alten Song. Und nach den ganzen Jahren erschien er mir auf einmal auf wundersame Weise irgendwie gar nicht mehr so scheiße. Es fehlte vielleicht nur ein wenig Reifezeit, entweder für mich oder für den Song. Und daher kommen wir heute zu einer absoluten Welturaufführung. Ich präsentiere „Ich war verrückt nach dir“. Wieder einer meiner Titel dem Vegessen entrissen. Es war also mal wieder ein sehr spaßiges Wochenende.

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Komponist: André R. Kohl
Texter: André R. Kohl

Manchmal muss ich an dich denken
und daran, dass immer alles so endet
vielleicht nicht genug gewollt, vielleicht nur Tribut gezollt
an eine bessere Zeit
Man kann zwar sein Herz verschenken
doch merkt man oft nicht, wie das Schicksal sich wendet
hat man erst mal registriert, was im Alltagsgrau passiert
endet es meistens im Streit
Es braucht nicht viel, dich zu vergessen
hab‘ ich mir tausendmal geschwor’n
doch gerade jetzt, wo ich mir glauben kann
beginnt der ganze Stress von vorn‘

Refrain:
Ich war verrückt nach dir
doch das ist lange her
was ist nur los mit mir
als ob es gestern wär‘
geht wenn du vor mir stehst eine Sonne auf in mir
Ich war verrückt nach dir
und will’s nie wieder sein
weil ich ganz deutlich spür‘
zum Schluss bin ich allein‘
besser wenn du jetzt gehst
denn sonst verfall‘ ich dir

Das mit uns beiden hält für immer
darauf hätt‘ ich meine Seele verpfändet
darauf hab‘ ich fest gebaut und hab‘ dir grenzenlos vertraut
doch bleibt am Ende nichts mehr
Hätt‘ ich gewusst, es würde schlimmer
hätt‘ ich die Sache längst schon vorher beendet
hätte nicht lang nachegfragt, nicht mal auf Wiederseh’n gesagt
fiel es mir auch noch so schwer
Lieber verbrennen als verblassen
lieber weit weg als viel zu nah
doch gerade jetzt, wo es mir besser geht
bist du ganz plötzlich wieder da

Refrain:
Ich war verrückt nach dir …

 

P.S.: Die Dame, um die es hier geht, ist heute natürlich verheiratet und hat zwei Kinder. Und auch sie hat diesen Titel nie gehört. Aber sollte sie das hier lesen – wovon ich nicht unbedingt ausgehe, deswegen kann ich das jetzt hier ruhig mal schreiben – Hey, ich habe damals wirklich verdammt oft an dich gedacht 😉

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