Nicht immer ist Vergangenheit wirklich vergangen. Sicher, die Zeitspanne als solches ist es unbestritten. Aber der Mensch ist ein komisches Wesen – und so neigt er dazu, die Vergangenheit zu verklären und sich so bei der Verarbeitung derselben unaufhörlich selbst im Weg zu stehen. Und wenn dann auch noch mehr oder weniger große Gefühle im Spiel sind, wird gerne mal solange an der Beleuchtung geschraubt, bis am Ende ein Film dabei herauskommt, in dem die eigene Rolle darin tatsächlich noch zur Hauptrolle taugt. Weichzeichner und Sepia-Tönung inklusive. Und diesen Film kann man sich in seinem Kopfkino schlussendlich auch beruhigt anschauen, ohne bei jedem Schnitt vor lauter Grausen den Kopf abwenden zu müssen. War doch alles gar nicht so schlimm damals. Also schaut man sich den Film noch einmal an. Und nochmal. Und dann immer und immer wieder.
Ich hatte eine ganze Menge Beziehungen in meinem Leben, eine kunterbunter als die andere. Nicht etwa das ich stolz darauf wäre, es hat sich halt immer einfach irgendwie so ergeben. Von einer dieser Beziehungen handelt mein heutiger Beitrag. Und zwar eine von denen, die mein Leben nachhaltig verändert haben. Wieder mal schreiben wir die 80er Jahre und wieder mal ging es mir – richtig – nicht besonders gut. Ich führte soetwas ähnliches wie eine Fernbeziehung (allein diese wäre schon einen weiteren Beitrag wert), war daher natürlich überwiegend alleine und auf mich selbst gestellt. Eine prima Gelegenheit also, nächtelang durch Kneipen zu ziehen, zu viel zu trinken und sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit selbst zu bemitleiden, was ich natürlich auch gerne und ausgiebig tat. Ungeachtet natürlich der Tatsache, dass ich mich einmal mehr ganz alleine in diese Situation, nun, sagen wir mal „hineingelebt“ hatte.
Die Tage und auch nicht die Abende waren dabei ein Problem, die bekam man schon ziemlich gut herum. Es waren die Nächte, die es damals in sich hatten. Nicht mal die ganzen Nächte, sondern der Teil davon, in dem man, meist erwacht aus heftigem Rausch, frierend und triefend vor Selbstmitleid schlicht und einfach einsam war. Also tat ich das, was ich besonders gut drauf hatte: Ich heulte mir die Augen aus dem Kopf und suhlte mich geradezu in einem Schlamassel aus Hoffnungs-, Antriebs- und Perspektivlosigkeit. Und ich schaute viel fern.
In genau einer solchen Nacht blieb ich beim Zappen an einem Werbespot hängen. Sympathische, junge, gutaussehende Menschen, lächelnde Gesichter, Menschen, die sich augenscheinlich des Lebens freuen konnten. Also das genaue Gegenteil von mir. Was denn, einfach nur eine Telefonnummer anrufen, und schon bist du mittendrin? Na wenn das nicht mal einen Versuch wert ist. Also wählte ich, hörte ein wenig Musik durchs Telefon, eine freundliche Stimme vom Band erklärte mir die Spielregeln und ein paar Augenblicke später wurde ich mit einer mir völlig fremden Dame verbunden. Nicht etwa mit einem Computerprogramm, nein, da war ein echter Mensch am anderen Ende. Und zwar einer mit einer irre sexy Telefonstimme.
Erschlagt mich, aber ich kann mich heute nicht mehr ganz genau daran erinnern, wie eines zum anderen kam. Die sexy Telefonstimme, die sich mir als Doro vorstellte, schien jedenfalls irgendwas in mir zu sehen (oder besser zu hören), was mir bislang verborgen geblieben war. Nach ein wenig Smalltalk fragte sie mich dann auch, ob wir denn nicht lieber „privat“ miteinander sprechen wollten. Und sie klärte mich darüber auf, dass es doch schon ordentlich Geld kosten würde, mit ihr über die „Line“ – so nannte man das wohl im Fachjargon – zu sprechen, eine Tatsache, die mir irgendwie völlig entfallen war. Also gab ich ihr meine Telefonnummer und sie rief mich an. Und wir begannen, miteinander zu reden. Nicht zu sprechen, nein tatsächlich zu reden. Ein ganz gewaltiger Unterschied.
Unser erstes Telefonat dauerte die ganze Nacht. Und den ganzen kommenden Tag. Nein wirklich, keiner von uns beiden legte auf. Ein mir völlig wildfremder Mensch brachte soviel Interesse auf, mir stundenlang zuzuhören. Und ich dankte es diesem Menschen mit einer derart schonungslosen Offenheit, dass ich mich beinahe vor mir selber erschreckte. Hier musste ich mich nicht verstellen. Warum auch? Ich kannte die Dame ja nicht. Obwohl – Interessant wäre es ja schon, zu wissen, mit wem man es denn da eigentlich zu tun hat. Oder vielleicht doch nicht? Aus Tagen wurden Wochen, aus Wochen Monate. Und ich begann, nur noch für die Zeit zu leben, in denen ich diese Stimme hören durfte. Mit ihr lachen, mit ihr mit ihr dummes Zeug erzählen, ihr irgendwie näher zu sein, als ich es mir selbst eingestehen wollte. Wer mich damals telefonisch erreichen wollte, hate echt schlechte Karten. Handys gab es damals noch nicht und bei mir war schlicht dauerbesetzt. Denn Doro war dran. Und Doro mochte mich. Warum auch immer.
Nach etwa zwei Monaten, in denen wir täglich mehrfach miteinander telefonierten, beschlossen wir, dass es nun an der Zeit sei, dass wir uns auch endlich persönlich kennenlernen sollten. Die einzige Frage, die im Raum stand, war die: Würde ich ihr gefallen? Und was wäre, wenn sie nicht die wäre, die ich mir in meinem Kopf zurechtgelegt hatte? Es folgte also der Sprung ins kalte Wasser. Ich packte einen Beischlaf-Utensilien-Koffer zusammen und machte mich auf den nicht enden wollenden Weg in ihre Stadt. Und als ich endlich den verabredeten Treffpunkt erreichte, stand sie auch tatsächlich da. Überhaupt nicht mein Typ. Einen Kinderwagen vor sich herschiebend, ein weiteres Kind an der Hand. Aber sie hatte dieses Lächeln. Dieses Funkeln in den Augen. Und so kam es, wie es kommen musste: Ich verliebte mich. Ich Idiot. Wenn ich es nicht schon längst hatte …
Es folgte ein „Wochendende mit allem“. Und noch an diesem Wochenende fällte ich eine Entscheidung: Ich wollte mit dieser Doro zusammen sein. Ich Idiot. Also fuhr ich ein weiteres mal zurück in meine Wohnung, packte ein paar wenige Sachen und meine Gitarre zusammen und zog bei ihr ein. Und war die nächsten zwei Jahre für den Rest der Welt vom Erdboden verschwunden. Ich hatte – zum ersten mal in meinem Leben mit allen Konsequenzen – mein komplettes Leben auf den Kopf gestellt. Und Doro zeigte mir ihre Sicht der Dinge. Eine recht leichte Sicht auf die Welt, soviel sei hier verraten. Sie brachte mir eine Menge Dinge bei, die ich nicht lernen wollte und machte ansonsten mit mir was sie für richtig hielt. Ich lernte, dass Doro eigentlich gar nicht Doro hieß, ich lernte, dass sie drei Kinder von drei Männern hatte, ich lernte, dass sie für Geld eine ganze Menge tat, ich lernte, dass sie auch ohne Geld eine ganze Menge tat. Und ich lernte, was es bedeutet, einen Menschen so sehr zu lieben, dass einem alles andere egal ist.
Es dauerte zwei Jahre. Wieder einmal. Danach nahm sie ihre Kinder unter den Arm, besuchte eine Freundin und kam nicht wieder. Beiläufig bekam ich mit, dass sie mir zuvor mein Konto abgeräumt hat, aber wer will schon Erbsen zählen? Nach einigen Wochen Abwesenheit, in denen ich einmal mehr litt wie ein Hund, machte sie mir dann auch folgerichtig unmißverständlich klar, dass ich keinen Platz mehr in ihrem Leben hätte. Ich warf also den Schlüssel in den Briefkasten, zog die Wohnungstür hinter mir ins Schloss und machte mich wieder einmal auf in ein neues Leben. Und natürlich hinterließ ich ihr einen Song. Was sonst?
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Komponist: André R. Kohl
Texter: André R. Kohl
Ich hätt‘ so gern‘ mit dir geredet
anstatt wieder einmal diese Wand anzuschrei’n
ich hätt‘ dir gerne gesagt, dass es mir dreckig geht
ich hätt‘ so gern‘ in deinen Augen
nach der Wahrheit gesucht, denn es kann doch nicht sein
das nach zwei solchen Jahren man sich nicht mehr versteht
Ich hätt‘ so gern‘ deine Hand gehalten
ohne jeden Grund, ganz einfach so
ich hätt‘ so gern endlich verstanden
was dich wirklich bewegt und was dann zwischen uns steht
so wie die Frage, ob’s noch weiter geht
Ref.:
Wenn du nur dageblieben wärst
bei Gott, ich hätt‘ mich geändert
Wenn du nur dageblieben wärst
dann wär‘ nicht alles vorbei
oh verzeih‘, so kann’s doch nicht weitergeh’n‘
Wenn du dageblieben wärst
dann hätten wir eine Chance
doch wenn du dieses Lied dann hörst
bist du bestimmt schon gegangen
Ich hätt‘ so gern’versucht zu leben
eine Liebe auf Zeit, die bedeutet nicht viel
ich wär‘ so gerne gewesen wie ich wirklich bin
ich hätt‘ so gerne widerstanden
denn es bleibt unter’m Strich nur ein flaues Gefühl
und jedes „Ich hab‘ dich lieb“ hat plötzlich anderen Sinn
Ich hätt‘ dir gern‘ über’s Haar gestreichelt
ohne jeden Grund, ganz einfach so
ich hätt‘ so gern‘ mit dir geschlafen
nicht aus Reue und Schuld, sondern aus Liebe zu dir
denn irgendwann gehörtest du zu mir
Ref.:
Wenn du nur dageblieben wärst
hätt‘ ich dir alles versprochen
Wenn du nur dageblieben wärst
dann wär‘ jetzt alles okay
oh versteh‘, so kann’s doch nicht weitergeh’n‘
Wenn du dageblieben wärst
dann hätten wir’s hingebogen
doch wenn du dieses Lied dann hörst
bist du bestimmt schon gegangen
Ich weiß, meine Lieder, die ändern nicht viel
dein Entschluss stand doch schon vorher fest
und doch bleibt in mir so ein vages Gefühl
das du mich nicht einfach hängen lässt
Ref.:
Wenn du nur dageblieben wärst
dann wär‘ das Lied hier nicht nötig
In den darauffolgenden Jahren trafen wir uns immer mal wieder. Sie bekam ein weiteres Kind von einem weiteren Mann, gelegentlich schliefen wir miteinander, das einzige, was wir anscheinend wirklich gut miteinander konnten. Und irgendwann versuchten wir sogar einmal, das wiederzufinden, was es früher einmal war. Ohne Erfolg.
Doro starb an meinem Geburtstag. Man sagte mir, dass ihre Urne an einem schönen Platz beigesetzt werden wird. Ich jedoch werde nicht dabesein, wenn das passiert. Ich kann diese Bilder in meinem Kopf nicht brauchen, nicht diese auch noch. Aber soweit ich weiß, hat sie ihren Frieden mit ihrem Schöpfer gemacht. Ich wünsche mir sehr, dass sie es gut hat, da wo sie jetzt ist. Forever and beyond …